Greenpeace Magazin | Preiswürdig

2022-10-07 21:58:48 By : Mr. Barton Zhang

die diesjährigen Nobelpreise sind verteilt. Den Auftakt machte am Montag der Medizin-Nobelpreis für Svante Pääbo, der am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig forscht. Er entschlüsselte das Erbgut des Neandertalers und begründete die Paläogenetik. Dabei fand er Bemerkenswertes heraus, unter anderem, dass im Erbgut des Homo sapiens, also in unserem, Reste von Neandertaler-DNA stecken.

Da müssen wir jetzt durch. Der moderne Mensch hält sich zwar bekanntlich für die Krone der Schöpfung, nimmt sich aber der Mit- und Umwelt gegenüber vieles heraus, was weder unseren steinzeitlichen Vorfahren je eingefallen wäre noch irgendeinem Tier in den Sinn käme. Wir Angehörigen der Spezies Homo sapiens, im Folgenden H.S., machen unter, neben und über uns so ziemlich alles platt, womit wir in Berührung kommen. Gleichzeitig bilden wir uns auf unsere körperlichen und geistigen Fähigkeiten viel ein (das Protokoll verzeichnet Heiterkeit im Tierreich).

Doch so einzigartig, wie wir glauben, sind wir nicht. Okay, Menschen können rechnen – was, wie man heute weiß, auch Fische können. Werkzeuge benutzen außer uns auch verschiedene Vogelarten (zum Beispiel Spechte, Drosseln, Krähen und Raben), Affen, Bären, Delfine oder Schweine. Natürlich baut H.S., was das Zeug hält, vom Carport über die Mehrzweckhalle bis zum Burj Khalifa, vom Gotthardtunnel bis zur Öresundbrücke. Aber Ameisen, Termiten, Bienen, Nacktmulle oder Biber bringen ebenfalls Erstaunliches zuwege, ohne dass Kosten oder Ökobilanz aus dem Ruder laufen.

Die tierischen Baumeister überschreiten sogar manchmal die Grenze zwischen Architektur und Kunst, etwa der Seidenlaubenvogel oder die Spinne. Manche verlegen sich auch gleich ganz auf Pinsel und Farbe: Nicht nur das Orang-Utan-Weibchen Nenette malt; das malende Schwein „Pigcasso“ hat eigene Ausstellungen, auch Elefanten, Nashörner und Schimpansen sind künstlerisch unterwegs, und im Gnadenhof Tierpark Wolfsgraben im österreichischen Wienerwald lebt ein Malesel namens Frederic.

Auch physisch lassen sich Tiere von unsereinem nicht so leicht etwas vormachen. Gewichtheber wie die Ameisen können bis zum 40-Fachen ihres Gewichts tragen und mit ihrer Last sogar kopfüber einen Ast oder Stängel entlanglaufen; Geparden sind im Sprint um die hundert Stundenkilometer schnell und Albatrosse sogar noch schneller, und was das Klettern betrifft: Gämsen und Steinböcke können über bergsteigende Menschen mit Haken und Seilen nur leise meckern. Eichhörnchen rasen blitzartig die Bäume rauf und runter, Katzen gleiten geschmeidig auf und ab (wenngleich Hauskatzen sich manchmal nicht mehr trauen, herunterzuklettern), Affen schwingen sich lässig von Baum zu Baum.

Ja, aber unsere Erfindungen! Stimmt schon, im Lauf der Evolution hat H.S. dies und jenes erfunden. Nützliches wie Buchdruck, Regenschirm und Waschmaschine, Zweifelhaftes wie Fischbeinkorsett, Einweggrill und Tamagotchi und Schreckliches wie Daumenschrauben, Landminen und Atombomben. Sowie allerhand Technologien, mit denen wir eifrig an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen, allen voran die Nutzung fossiler Energien, samt dazu passenden Ideologien sowie Rechtfertigungen: Ist doch praktisch/billig/modern, sichert unseren Lebensstandard/unser Wirtschaftswachstum/unsere Herrschaft über andere Völker oder vernichtet diese gleich ganz.

Wie gesagt, das wäre den Neandertalern wohl nicht eingefallen. Diese waren nämlich keineswegs blöd und könnten auch weitaus friedlicher gewesen sein, als gemeinhin vermutet. Jedenfalls haben sie dem aus Afrika nach Europa eingewanderten H.S. offenbar nicht gleich entgegengebrüllt „Das Boot ist voll!“ oder „Neandertal den Neandertalern!“, sondern die Ankömmlinge willkommen geheißen, mit ihnen koexistiert und eben auch Nachkommen in die Welt gesetzt. Vielleicht wäre es gar nicht übel, wenn wir mehr als etwa zwei Prozent Neandertaler-Gene in uns hätten.

Homo sapiens sapiens ist laut Wikipedia lateinisch für „verstehender, verständiger“ oder „weiser, gescheiter, kluger, vernünftiger Mensch“. Das Nobelpreiskomitee in Oslo ehrt heute Menschen, die dieser Definition entsprechen, mit dem Friedensnobelpreis: den belarussischen Menschenrechtsanwalt Ales Bjaljazki, die russische Menschenrechtsorganisation Memorial und das ukrainische Center for Civil Liberties. Bjaljazki ist derzeit in Haft, Memorial wurde Ende 2021 von einem Moskauer Gericht aufgelöst. Was wiederum unverzüglich die Frage aufkommen lässt: Könnte irgendwer da draußen noch mal kurz erklären, was genau an Homo sapiens sapiens klug sein soll?

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